Wie sieht Wirtschaftsentwicklung heute aus? Was sind alternative Modelle?
Es muss nach unseren heutigen Erfahrungen etwas von einem dritten oder vierten Weg haben. Die Planwirtschaft hat klar ihr Versagen aufgezeigt und das sowohl auf der Seite der wirtschaftlichen Produktivität wie auf der Seite der Menschenrechte, die sie erzeugt. Alle Ausreden von einer ständigen Bedrohtheit durch die andere Seite, die dort vorgebracht wurden, wirken wenig überzeugend. Der angelsächsisch geprägte Kapitalismus auf der Basis der neoliberalen Experimente seit Reagan, Thatcher und vielleicht auch Kohl und Schroeder wirkt im Moment in seinen Resultaten mehr als wackelig. Die großen wirtschaftspolitischen Errungenschaften der Kohl-Ära wie die Einführung des Privatfernsehens und die „blühenden Landschaften“ oder Schröders Hartz IV haben fragwürdige Auswirkungen.
In der Krise haben sich die fast schon abgeschafften, alten sozialdemokratisch-keynensianischen Errungenschaften wie Kündigungsschutz, Kurzarbeitergeld, staatliche Übernahme von notleidenden Firmen und Konjunkturprogramme bewährt. Dies geschah entgegen der überwiegend Meinung der Wirtschaftselite und auch der Wirtschaftswissenschaft.
Aber schauen wir mal weiter. Die wirklichen Wirtschaftslokomotiven der Weltwirtschaft sitzen seit einiger Zeit woanders, nicht im Museumskontinent Europa, sondern über den Tellerrand hinaus. Der Sack Reis, der in China umfällt, hat früher sprichwörtlich niemanden interessiert. Heute erzeugt er bei uns Beben. Schauen wir uns die Wirtschaftsordnungen etwa von China und Indien einmal an. Abgesehen davon dass beide Länder durch ihre Riesenbevölkerung einen hohen Bedarf an Wirtschaftsleistung haben, zeichnen sie sich kaum durch die sonst so hervorgehobenen Charakteristiken für gute Wirtschaftsentwicklung wie klare Rahmenbedingungen, Wirtschaftsfreiheit oder transparente Geschäftspraktiken, um nicht zu sagen korruptionsfreies Wirtschaftsgebaren aus. In beiden Ländern ist sowohl wie vor einigen Jahrzehnten in den Tigerstaaten Südkorea, Taiwan und Singapur eine männliche, autoritär dominierte Führungskultur und eine für den einzelnen deutlich restriktive Staatsgewalt festzustellen. Deng Xia Ping hatte zu Beginn seiner Wirtschaftsreformen insbesondere das Modell in Singapur studiert. Der Einzelne gilt in Relation zum nächst größeren Subsystem, der Familie, dem Unternehmen oder der Region wenig. Für die kleineren Länder Taiwan, Singapur und Südkorea war der letzte Punkt nicht so wichtig, aber für Indien und China gilt er ganz zentral. Die Zentralregierung ist weit weg. Föderale Elemente sind in Indien so wichtig, dass Dehli oft gar keine Rolle spielt. In China ist eher die geographische Ferne Pekings schon genüged. Aber für beide Länder gilt, dass die wirtschaftliche Betätigung sehr stark vom Subsystem Familie und Sippe bestimmt ist.
Einspruch: Dies könnte man für Süditalien vielleicht auch konstatieren, wo bestimmte Familien das Sagen haben. Hier entsteht aber immer wieder der Verdacht, dass der Staat auch damit verbandelt ist.
Dies ist er mit der Einheitspartei in China und der langen, breiten demokratischen Tradition in Indien anders. Hier sind die großen Länder wiederum durchaus unterschiedlich. Im südindischen Bundesstaat Kerala beispielsweise wechseln sich seit vielen Jahren demokratisch die Kongresspartei mit der kommunistischen Partei an der Regierung ab. Die Alphabetisierungsquote ist in dem agrarisch geprägten Bundesstaat 100 Prozent und mehrere Religionen (Hinduismus, Christentum, Islam und Jainismus) werden weitgehend friedlich nebeneinander praktiziert.
- Mich persönlich störten dort nur die 10-12 m überlebensgroßen, weißen Pietats, Maria mit Jesus auf dem Schoß.-(dazu auf dieser Webseite mehr im Indienbericht)
Aber so ist Indien. Vielleicht sind die die den Einzelnen moralisch disziplinierende Wirkungen in Indien durch hauptsächlich hinduistische und in China konfuzianische und taoistische Tradition nicht zu unterschätzen. Dies ist der Unterschiefd zum katholischen Süditalien, in dem die katholische Beichte vieleicht mental vieles bereinigt, das in Indien in der persönlichen Schuld bleibt.
Entscheidend scheint aber das Wirksamwerden von mittleren Systemebenen wie Familien, Sippen, Regionen und föderalen Strukturen, die durchaus im marktwirtschaftlichen Wettbewerb miteinander agieren. Der Individualismus steht im Hintergrund. Gleichzeitig wissen die Subsysteme auch, dass sie auf den jeweiligen Nachbarn angewiesen sind. Konkurrenz findet somit im Rahmen statt. Dies ist bei anonymen, wenig durch emotionale Beziehungen geprägten Kapitalgesellschaften schärfer.
Auch in Deutschland wird die momentan gute wirtschaftliche Verfassung auf die föderalen Strukturen zurückgeführt. Denn diese haben im Gegensatz zu vergleichbaren Ländern mit stärker zentralistischer Struktur eine breitere und ausgewogenere Branchenstruktur mit Industrie, Dienstleistungen und öffentlichem Sektor weiterentwickeln lassen. Dies ist in Deutschland ein sehr altes Prinzip, das bis auf die Goldene Bulle mit den Rechten der Kurfürsten zurückgeht. Jedes Landessystem hat immer für seinen Selbsterhalt gesorgt. Wenn die Subsysteme für sich sorgen können und Rechte haben, scheint insgesamt mehr herauszukommen als bei stromlinienförmiger Standardisierung, auch wenn letztetes schneller aussieht. German disease und German angst, die Schwerfälligkeit des deutschen Systems zum Umsetzen von so genannten Reformen werden zurzeit in der Welt kaum diskutiert. Eher wird der föderale Gedanke, dass Menschen über ihre nähere Umgebung auch selbst mitbestimmen, wieder stärker.
Weiterführende Lit. Mohr, G.: Systempulsation, in: Systemische Organisationsanalyse, Edition Humanistische Psychologie, 2006.