Cochin-Aluye-Palai-Kuttikanam-Chennai Dieser Bericht ist auf einer Arbeitsreise in Südindien entstanden. Ich war bereits 2004 in Indien. Damals wohnte ich allerdings in einem guten Hotel in Bangalore und in einem Ayurveda Retreat. War das wirklich Indien? Dieses Mal lernte ich Indien ganz anders, ich sage „wirklich“ kennen. Vor allem die Menschen sind mir sehr ans Herz gewachsen. Einige Gepflogenheiten des Alltags stellten mich jedoch deutlich auf die Probe und machten mir meine eigenen Gewohnheitsmuster klar.
Freitag: Cochin-Aluye
Auf der Fahrt vom Flughafen zum YMCA nach Aluye begegnet mir Indien zuerst in Form eines Elefanten. Ich muss zweimal hingucken, weil es ungewohnt ist. Der Elefant steht auf der Ladefläche eines kleinen LKW, der vor uns fährt. Als wir den Wagen überholen, sehe ich, dass der Elefant an den Füßen vertäut ist. Auch ein Mann steht mit auf der Ladenfläche. Ich überlege, was der wohl macht, wenn der Elefant in einer Kurve in Bewegung gerät. Der erste Tag in Aluye, in der Nähe der großen Hafenstadt Cochin im Bundesstaat Kerala war ein echter Schock. Es ist heiß, sehr heiß, feuchtwarm, richtiges Suppenklima und gleichzeitig staubig. Hinter dem Tagungsort in Aluye quält sich ein breiter, schlammiger Fluss vorbei. Eine Herde sehr gut genährter Flussrinder steht auf der anderen Seite des Flusses am Ufer. Ab und zu gehen die Rinder auch ins Wasser. Dahinter sieht man nur Bäume und Laub und von Zeit zu Zeit kommt der Singsang des Muezzin von einer dort wohl versteckten Moschee herüber. Auch vier Häuser weiter hinter mir ist ein Muezzin aktiv. Zeit zum Essen. Ein zäher Brei aus einem großen Topf wird ohne Besteck serviert. Alle essen mit den Fingern, schmieren Reis und Soße mit den Fingern der rechten Hand zusammen und stopfen sich das in den Mund. Zwei Tage später beherrschte ich diese Kulturtechnik ebenfalls einigermaßen. Aber ich habe ein Problem. Da die Soßen so verteufelt scharf sind – sie nennen das „a bit spicy“ – verzichte ich auf sie. Das hat aber einen entscheidenden Nachteil. Dadurch fehlte mir der Klebstoff für den Reis. Und ich versuche mich in dem Kunststück, trockenen Reis mit den Fingern einer Hand zu essen und dennoch auf die Leute noch den Eindruck zu machen, dass man das Essen mag. Denn die Frage "Do you like Kerala Food?" folgt auf dem Fuße und ist mit einem „Yes, it´s interesting“ doch etwas unwahr beantwortet. Zum Glück kann man sich mit dem "spicy" herausreden, wenn man etwas zurückhaltend ißt. Der Salat sieht immer ganz frisch und gut aus. Aber in ihm lauert für den westeuropäischen Magen die größte Gefahr, weil er meist mit unsauberem Wasser gewaschen ist. So bleiben die schönen gebackenen Teigfladen, sogar zwei, alles etwas trocken und zum Schluss eine Banane. Tee wird immer wieder serviert. Mir erscheint es wie heiße Milch mit ein wenig Tee und viel Zucker. Mich erinnert das an Krankheits in der Kindheit, wenn die Mutter heiße Milch mit Honig servierte. In Ermangelung anderer Getränke nehme ich den Tee aber gerne. Zum Frühstück gibt es etwas Gebratenes, das aus Ei und Kokos besteht. Ein entfernter Verwandter des beidseitig gebackenen Spiegeleis, schmeckt aber nicht schlecht. So langsam gewöhne ich mich an das hiesige Essen. Ich freue mich, vielleicht kann ich ja mit den kleinen Portionen ein wenig abnehmen. Das Zimmer ist dank der Aircondition angenehm kühl und so hat die Unterkunft -wenn man das Essen einbezieht - sicherlich den einen Stern verdient. Ich hätte auch null geben können. Aber man soll ja positiv denken. Das Zimmer ist mit 1250 Rupies am Tag - etwa 22 Euro - schon im oberen Bereich der Zimmerpreise. Damit ist es für viele einfache Leute schon etwas teuer. Das Zimmer ist schön sauber. Gut es liegt direkt an einer viel befahrenen Überlandstraße, auf der die LKWs und die alten Busse hier schon auf 70 bis 80 Stundenkilometer kommen. Die Fenster des Zimmers sind relativ gut abgedichtet gegen außen. Angesichts der vielen Moskitos in der Nähe des Flusses, ein sehr beruhigendes Gefühl. Aber die Intelligenz dieser kleinen Tierchen im Aufspüren kleinster Ritzen und Löcher ist nicht zu unterschätzen. Das ahnte ich zunächst nicht und machte mir nicht die Mühe, das Moskitonetz aufzubauen. Es waren jauch gar nicht viele, maximal drei Moskitos im Zimmer. Aber wie ein altes Sprichwort sagt: schon ein Moskito reicht, um einen Elefanten gehörig zu ärgern. Um es vorweg zunehmen: Mit ein, zwei Stichen komme ich davon. Aber die Biester haben einen ordentlichen, schmerzhaften Stich. Sie werden aber nach getaner Arbeit zur Unvorsicht verleitet, so dass ich sie erledigen konnte. Aber man kennt das: Kaum hat man sich hingelegt, hört man wieder das Summen.
Samstag: Aluye
Morgens höre ich plötzlich aus einem Nebenraum sehr laute Menschen. Ich kann nicht einordnen, um was es dort geht. Ist dort etwas passiert? Geschrei kommt aus dem Raum, aber draußen verhalten sich alle ruhig. Ist das typisch, dass man einfach nicht Notiz nimmt, wenn etwas nebenan passiert? Das passt aber auch nicht zu den Leuten hier, die eigentlich aufmerksam sind, zumindest neugierig. Ich bin auch neugierig und gehe ans Fenster des Raumes. Da wird es mir klar. Hier findet das morgendliche Lach-Yoga statt.
Heute Nachmittag ist mein Workshop. Zunächst auf drei angesetzt, dann auf 15.30, Uhr verlegt, dann kommt noch die Teepause, so dass ich um rund 16.00 Uhr starte. Etwa 45 Leute wollen zuhören, das sind sehr viele für einen Workshop. Der Overheadprojektor ist zu dunkel. Die Folien sind nur schemenhaft zu erkennen. So entschließe ich mich, das Wesentliche noch einmal auf eine improvisierte Tafeln zu malen. Die Zuhörer wirken sehr aufmerksam. Das verleitet mich zu einer leichtsinnigen Interpretation. Ich lasse sie eine Übung machen. Sieben Untergruppen können mit der Instruktion nichts anfangen. Irgendwie machen sie aber was. Drei Tage später sollte ich verstehen, was das Problem ist. Und viele sagen zum Schluss, dass es interessantes Material ist. Abends wird draußen ein Feuer gemacht, es wird getanzt und vor allem viel gesungen. Getrunken wird nichts. Alkohol spielt gar keine Rolle. Überhaupt trinken die Inder kaum, und dies in dem warmen Land, auch kaum Wasser. Alle Regeln von wegen mindestens 2 Liter Wasser trinken scheinen eher amerikanisch und europäisch zu sein.
Sonntag: Palai
Am dritten Tag steht für mich die Entscheidung an, wie weiter. Wie soll ich die Tage zwischen den beiden Veranstaltungen verbringen? Zwei englische Kollegen sind inzwischen auch in Cochin eingetroffen. Sie sind in einem 5-Sterne-Hotel untergebracht und wollen shoppen gehen. Ich überlege, ob ich mich ihnen anschließen soll, aber bin ich dafür in Indien? Eigentlich nicht. So frage ich meine Kollegin Julie nach ihrem Workshop am nächsten Tag, ob es ein Problem wäre, wenn ich mit ihr käme? Sie antwortet, im Gegenteil, es wäre bestimmt gut.
So brechen wir in einem kleinen Auto zu dritt auf der Rückbank auf, weil der große Koffer den Beifahrersitz besetzt hatte. Sister Annie, Juli und ich sitzen eng auf der Rückbank. Aber es geht ganz gut mit der Ausnahme, dass ich mir bei dieser Fahrt bei ständig offenen Fenstern eine gehörige Halsinfektion hole. Das wusste ich zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht.
Sister Annie hatte mich mit den Worten „It´s very simple the room“ noch einmal auf aufs Schlimmste gefasst gemacht, wo ich schlafen sollte. „It´s only a matt“ sagte sie. Ich sah mich schon auf einem Hüttenboden voll kriechender und stechender Insekten liegen. Aber sie hatte wohl Matratze gemeint, aber Sister Annie war wegen ihrer Erkrankung so schlecht zu verstehen. Der Zweifel nagte allerdings an mir. War es wirklich eine richtige Entscheidung? Es ging also nach Pala, 4 Stunden mit dem Auto entfernt. Die Himmelsrichtung war mir unklar. Nach Westen konnte es nicht sein. Denn da war ja das Meer. Also blieben nur noch drei Himmelsrichtungen übrig. Mein Tipp war Süden. Das war allerdings falsch. Es war Nordosten, in Richtung Karntaka, Tamil Nadu. So furchtbar wichtig war das nicht. Wir sollten am nächsten Tag dort einen Workshop machen, den Sr. Annie organisiert hatte.
Keine 200 m Fahrt ohne dass man einen Menschen oder eine menschliche Behausung sieht. Sehr viele Menschen überall. Eine Zeit lang fahren wir auf einer Straße, die plötzlich als nur noch eingeschränkt befahrbar angekündigt wird. Ein großes Transparent über der Straße wie bei einem Fest beschreibt dies. Dobin, der Fahrer kehrt lieber um, fährt 20 km zurück. Das bedeutet mehr als eine halbe Stunde zusätzlich. Aber er hat ein relativ neues, eigenes Auto. Da ist er lieber vorsichtig.
Abends erreichen wir Palai. Es ist eine Stadt mit viel Betrieb und sehr tropischem Klima. Jetzt erst wird mir klar wie mild es in Cochin in der Nähe der See und am Fluss gewesen ist. Hier ist Suppenklima. Dobin und Sister Annie laden uns in Pala in einem Hotel ab, das eher wie ein Mietshaus aussieht. Aber nach einer langen Autofahrt ist einem Ankommen ganz lieb. Es sei nicht sehr teuer, 499 Rps, etwa 9 Euro, pro Nacht. Sogar für mich gäbe es noch ein Zimmer. Gegenüber gäbe es sogar ein Hotel, das nur 100 Rps., 1,80 Euro, koste, sagt Sister Annie und lacht dabei. Ich schaue hinüber und sehe eine Gruppe von Männern vor eine dunklen Eingang in ihren Dotis an der Wand lehnen und neugierig herübersehen. Hier neigt man nicht zur Sparsamkeit. Unser Hotel heißt Windrose. Im Zimmer sehe ich sofort den Haken an der Decke über dem Bett. Ich beschließe, sofort das Moskitonetz aufzubauen. In dieser Gegend würde ich mich als Moskito sehr wohl fühlen. Und damit sollte ich sehr recht behalten.
Nach der langen Autofahrt beschließen wir, uns erst einmal die Stadt bei einem Rundgang anzuschauen. In der belebtesten Straße ist alle 20 Meter am Straßenrand ein Lautsprecher, aus dem ohrenbetäubender Lärm dringt. Manchmal eine Stimme, dann wieder Gegröle von Lauten, als etwas technisch krächzend verzerrt, vermutlich in Malailam. Diese Lautsprecher kenne ich nur aus kommunistischen Staaten. Gut, Kerala war der erste Staat, in dem es eine frei gewählte kommunistische Regierung gab. Das war 1956. Heute 2007 ist die kommunistische Partei in dem 35 Millionen Bundesstaat wieder an der Regierung. Kleine abgenutzte dunkelrote Stoffflaggen mit Hammer und Sichel an einigen Straßenecken und an Baustellen deuten daraufhin. Wir kommen zunächst zu einem turmhohen religiösen Schrein, der hell angestrahlt ist und eine überlebensgroße Pieta enthält. In unseren Augen sind die hier im Süden recht häufigen christlichen Statuen immer etwas kitschig, zu deutlich dargestellt in ihrem Schmerzausdruck oder auch in den bunten Farben. Aber das passt zur ausdrucksstarken, tiefen Frömmigkeit, die die Inder in allen ihren Religionen auszeichnet. In den Farben sind sich die hinduistischen Tempel und die katholischen Kirchen nicht so unähnlich.
Dem Strom der Leute folgend, die sich durch die Stadt schlängeln, kommen wir zu einem kleinen Markt, in dessen Mitte ein umzäunter Veranstaltungsort mit hohen Bambustribünen steht. Wir sehen die Tribüne und die vielen sitzenden Leute durch die Bambusstangen von hinten und unten, eine ungewohnte Perspektive. Was in diesem Stadion stattfindet, bleibt uns weiter schleierhaft, eine Parteiveranstaltung, ein Konzert, aber wir können nicht genug sehen.
Am nächsten Tag sollte es sich aufklären. Dobin sagte uns, dass es ein Volleyballspiel war. In einem Liquor Shop stelle ich mich an, weil sie „Hay 2000 beer" verkaufen. Da meine Kollegin Julie Hay heißt, hatte ich beschlossen, eine Flasche zu kaufen. Fünf Leute hinter einem vergitterten Schalter verkaufen mir in einem komplizierten Verwaltungsvorgang eine Flasche Bier, die in Zeitungspapier eingewickelt wird. Dafür muss ich in einer langen Schlange stehen Nach einer Stunde merke ich die Müdigkeit der langen Fahrt. Im Hotel wundere ich mich über die vergitterten Fenster und auch das Rollgitter am Eingang. Ich will mir hier nicht ein Feuer vorstellen. In dieser Nacht bekomme ich trotz Moskitonetz einen schlimmen Stich, der mir drei Tage richtig weh tut. Als Julie morgens sagt, sie nehme natürlich prophylaktisch Tabletten, nehme ich auch die erste Maloron. Aber wenn ich ein Malaria-Moskito wäre, würde ich hier leben.
Montag: Palai
Morgens mache ich zuerst einen Rundgang durch Palai, schieße auch einige Fotos. Dabei zeigte ich von Menschen überfüllt, überall Leute. Ich besuche die nahe gelegene Kirche, die eine Art Ashram mit viel buntem Drumherum darstellt. Auf dem Hof steht ein Bus mit jungen Mädchen, die freundlich schauend aus den offenen Fenstern schauen und mir „Hello“ und „Good morning“ zurufen.
Sr. Annie ist heute früher da als erwartet. Sie sagt auch, wir sollten das Hotel wechseln. Es sei nicht gut genug. Wir würden nachmittags nach Kuttikanam fahren. Ich erinnere mich, dass nachmittags Sightseeing geplant war. Das sollte sich dann doch etwas anders herausstellen. Aber erst einmal wird schnell das Moskitonetz abgebaut. Sister Annie hat uns dann ihr Institut gezeigt, ein Haus an einem Hügel mit einem riesengroßen Werbeschild, so wie es hier allgemein üblich ist. Da waren auch drei ihrer Trainees, die uns freundlich begrüßten. Ich dachte hier in dem engen kleinen Haus wird das Seminar stattfinden. Natürlich mussten wir die Schuhe auszuziehen, obwol wir sie nach drei Minuten wieder anziehen konnten. Ich beschloss in Erwartung noch mehrmaliger Schuh aus, Schuh an – Riten die Strümpfe ab jetzt wegzulassen und stieg so in die Schuhe. So habe ich die Socken in meinen Rucksack gepackt. Natürlich musste ich die Schuhe nicht mehr ausziehen.
Es kommt in Indien immer anders als man denkt. Wir kamen dann in den Convent, das Kloster von Sr. Annie. Es war ein größeres verzweigtes Gebäude mit kühlen Gängen. Wir wurden in einen Raum geführt, der noch einmal durch einen Vorhang unterteilt war. Wir bekamen das am Tag vorher in langen Befragungen ermittelte Frühstück in Form von Toast, Marmelade und Spiegelei. Als Nächstes war ein Workshop im College angesagt. Der Workshop wird übersetzt in Malailam, die Muttersprache in Kerala. Die Teilnehmer sind interessiert, aber oft ist nicht so genau auszumachen, ob sie etwas damit machen können.
Zum Mittagessen geht es in einen von außen relativ modern aussehenden, innen aber verdunkelten und tief herunter gekühlten Raum. Ein Versicherungsmakler hatte uns stolz mit seinem neuen Skoda Octavia dort hingefahren und auch zum Essen eingeladen. Er sagte, er sei mit seinen ganzen Leuten im TA-Workshop. Nachmittags fahren wir dann mit einem neuen Fahrer und einem Ambassador in die Berge. Der Fahrer sprach recht gut englisch, aber der Ambassador ist vor allem am Berg langsam und es ist kaum möglich, selbst langsame Fahrzeuge zu überholen.
Dienstag: Kuttikanam
Morgens: Vortrag in der Management-School. Nach dem Frühstück begrüßt uns der Rektor und der Vizerektor. 50 junge Master-Studenten eines postgraduierten Studiengangs sollen von uns etwas über "Leadership and Communication" erfahren. Diesmal mache ich den Anfang mit Communication und Julie will dann mit Leadership weitermachen. Die Studenten sind wieder gemischt bezüglich der Kenntnisse. Alle tragen schöne Uniformen mit Schlipsen auch die Mädchen, die die linke Hälfte des Zuhörerraumes besetzen. Die Jungs sitzen auf der rechten Seite. Alle scheinen Englisch gut zu verstehen und schauen sehr aufgeweckt, die Mädchen scheinen besonders gespannt. Von Dobin erfahre ich später, dass das ganze zweijährige Studium ungefähr 1 Lakh kostet, was etwa 1600 Euro entspricht. Wir haben Gott sei Dank Sister Annie bezüglich der Endzeit knallhart auf 12.00 Uhr festgelegt, so können wir pünktlich um 14.00 Uhr mit einem gut englisch sprechenden Fahrer von Kuttikanam nach Coachin fahren, von wo wir um 20.00 Uhr nach Chennai fliegen sollen.
Dienstag abend – Chennai:
Am Dienstagabend holt mich, wie verabredet Radhakrishnan vom Flughafen ab. Der kleine Mann mit der Hornrandbrille und dem psychologischen Doktortitel steht in der Riesenmenge von Leuten, die Passagiere abholen und winken. Julie war auch mit im Flugzeug. Sie wird aber von jemand anders abgeholt. Die 8-Millionen-Stadt Chennai scheint permanent erfüllt von warmer Luft und auch von Lärm und überall viele Menschen. Später kommt mir die Erkenntnis, dass die Stadt von der Fläche her eigentlich nicht viel größer ist als eine deutsche Großstadt, dass sich aber zehnmal so viele Menschen auf der gleichen Fläche aufhalten.
Kerala war eine Art Paradies: Bananen, Kaffee, Tee, Kokosnüsse, Ananas. Auch dort waren viele Menschen, aber nicht so ein geschäftiges Treiben wie jetzt hier in Chennai Nach dem landwirtschaftlich geprägten Kerala sehe ich nun eine der aufstrebenden indischen Staaten: Tamil Nadu. Die Sprache ist anders, die Schrift ist anders, alles ist anders.
Mittwoch: Chennai
Mit Radha, wie Dr. T.S. Radhakrishnan mir erlaubt ihn zu nennen, spreche ich den ganzen Morgen. Ich frage ihn, ob er Ramana Maharshi kennt. Er sagt sehr gut. Seine Frau Meena ergänzt, es sei sein Guru, was hier so viel wie bevorzugter Lehrer heißt. Radha erklärt mir die Zusammenhänge der alten indischen Philosophie, des Vedanta und des Hinduismus. Er berichtet mir auch einiges über seine Arbeit und ich biete ihm Supervision an. Wir machen insgesamt vier Supervisionen. Eine ging über den Container-Hafen von Chennai, den er berät. Vielleicht könnten wir dort auch mal hin. Mal sehen. An dem Tag beginnt mein kulinarisches Highlight in Indien. Denn Meena macht mich mit dem Essen und den Geheimnissen der indischen Küche vertraut. Radha erklärt dazu die ernährungswissenschaftliche Seite. Alkohol gibt es auch hier nie. Überhaupt, schon in Aluye bei den abendlichen Festen war mir aufgefallen, dass zwar viel gesungen und getanzt wurde. Aber Alkohol spielte keine Rolle. Bei Radhakrishnan, Meena und Harich bin ich wie in einer Familie aufgehoben. Meena hat wieder ein tolles Essen gezaubert und wartet als typische indische Hausfrau mit ihrem eigenen Essen solange, bis sie dem Gast den letzten Gang serviert hat. Erst dann fängt sie an.
Zwischendurch hat sie, um es vorsichtig auszudrücken einige Werbung für die einzelnen Gänge gemacht und ohne allzu viel Druck aufzubauen, beharrlich auf die Vorzüge des Essens und den kräftezehrenden anstehenden langen Flug hingewiesen. Radha sagt mir, dass ich es noch gut habe. Das nächste Mal würde er Meenas Mutter als Köchin auffahren, die nicht von meiner Seite wiche, bis ich nicht alles aufgegessen hätte. Während Meena zwischendurch einmal in der Küche verschwindet, berichte ich von meiner Mutter und deren Tricks für den Absatz des Essens zu sorgen. Doch der Nachtisch schmeckt wieder besonders gut. Es sind kurze Nudeln in warmer Milch mit Rosinen und Nüssen. Auch der vegetarische Hauptgang aus einer Reisgemüsemischung mit einer Kokosjoghurtsoße war lecker.
Meena hat mir auch wieder das heiße Wasser mit Ingwer gemacht, dass ich wie einen Tee trinke. Zum Essen erklären sie mir zusammen regelmäßig, was alles drin ist an Ingredienzien und auch, was nicht drin ist – „not spicy“. Aber so ganz wird nie darauf verzichtet. Keine ganze Chili-Schote, sondern nur eine halbe wurde diesmal verwendet. Denn sonst schmeckt es ja nicht.
Nachmittags ist Ruhe angesagt. Ich schlafe ein wenig. Danach machen wir noch eine Supervision. Ich flöße über den Tag wohl mehrere Liter Ingwerwasser in mich hinein, was Meena mir als Wundermittel gegen meine Racheninfektion empfiehlt. Auch richtigen guten Kaffee macht sie.
Abends fahren wir durch die Stadt bis ans Meer in Chennai direkt. Aber so richtig unternehmen wir erst mal nichts. Denn abends ist man auf einer Hochzeit eingeladen und ich solle mit, heißt es. Mir schwebt ein kleiner Kreis in seiner Bekanntschaft vor. Doch es kommt anders. Wir fahren zu einem großen Hochzeitssaal, in dem es wie in einem Theater viele Sitzreihen gibt, die zum Teil schon besetzt sind. Auf einer Bühne stehen zwei schwere Sessel, auf denen, so vermute ich, wohl das Brautpaar Platz nehmen soll. Zur Zeit hüpft aber noch eine Kinderschar darauf herum. Das ist aber ein Trugschluss. Drei Musiker spielen indische Musik, die Klimaanlage läßt uns frieren und alles ist sehr bunt.
Da es mir zu kalt ist, gehe ich hinaus und schaue mir ein wenig die angrenzenden Gebäude an, in denen Läden für Motorräder, Handys und allerlei andere Geschäft untergebracht sind. Auf der anderen Straßenseite steht eine christliche Kirche mit einem roten Leuchtstoffröhrenkreuz auf der Kirchturmspitze. Vor dem Hochzeitssaal werden an einem Stand Tierfiguren verkauft, die aus Gemüse geschnitzt sind. Als ich vor dem Hochzeitssaal stehe, bittet mich ein junger in roter Robe und weißem Schal gekleideter Mann wieder die Treppen hoch in den Saal zu gehen. Ich tue wie gebeten und setze mich wieder in die Reihe neben Radha. Neben mir sitzen noch ein Journalist von The Hindu und ein Mann aus dem Forstministerium von Tamil Nadu. Beide sind in TA-Ausbildung bei Radha. Auf einmal ist vorne etwas los. Das Brautpaar ist eingetroffen und steht von da ab vor den beiden Sesseln auf der Bühne, um die Glückwünsche von 500 Gästen, einem nach dem anderen anzunehmen. Dabei werden die beiden von einem Kameramann gefilmt und das Ergebnis auf drei im Raum verteilten Fernseher live übertragen. Der Kameramann geht auch zusammen mit einem Kabelträger durch die Reihen und filmt die Gäste. Er hält dabei die Kamera ziemlich lange auf die Leute, was wegen des sehr hellen Strahlers, der einen dabei anleuchtet, kein großes Vergnügen ist. Während der ganzen Zeit spielt eine indische Musikgruppe total laut verstärkte Musik, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Sehr schöne Musikstücke, wie Radha sie mir beschreibt, werden so zu einem Alptraum. Der feinfühlige Radha findet das auch. Aber so sei das nun mal bei indischen Hochzeiten.
Donnerstag: Chennai
Am Donnerstag stehen wir um 5.30 Uhr auf. Wir fahren nach Süden zum Strand, um den Sonnenaufgang zu sehen. Auf dem geteerten Weg hinter dem Strand gibt es eine Menge Läufer, Walker und Leute, die irgendwelche Form von Freiübungen machten. Kurz nach halb acht setzen sich einige Männer ans Wasser etwa dahin, bis wohin die Wellen kommen, ziehen ihre Dotis (Beinkleider) hoch, entblößen ihre Hinterteile und verrichten in aller Öffentlichkeit und Ruhe ihre Notdurft. Dies ist Radha deutlich peinlich. Er sagt, es seinen Fischer. Normalerweise seien die nicht so weit hier im Norden, aber möglicherweise durch den Tsunami soweit nach von Süden vertrieben. Man wisse nicht, „how to teach them“, sagt er. Wie soll man sie unterrichten? Ich denke bei mir, dass das in Deutschland der Tatbestand der Erregung öffentlichen Ärgernisses wäre und bestraft würde. Man würde es mit Strafen und nicht mit Lehren versuchen.
Wir kehren dann nach Hause zurück zum Frühstück, für das Meena wieder leckere Sachen gemacht hatte. Übrigens, sagt Radha zu mir, habe er eine Termin mit dem Vorstandsvorsitzenden der Chennai Container Terminal Ltd. gemacht. Um 11.00 Uhr; also starten wir um 10.00 Uhr nach Norden, wo der Hafen liegt. Die Eingangskontrolle in den Hafen ist sehr aufwendig. Aber der Chef des Containerhafens hatte offensichtlich Einfluss, denn die Passagierscheine lagen schon bereit. Während wir warten, schaue ich mir den zum Hafen gehörigen kleinen Hindutempel an. Obligatorisch gehört auch zu Industrieanlagen ein kleiner Tempel. Dann werden wir noch von, mit Maschinengewehren, bewaffneten Staatsbediensteten kontrolliert bis wir zum Verwaltungsgebäude des Containerhafens fahren können. Links und recht stehen in langen Schlangen Container und LKW für den Transport (Fotos: CCTL).
In der Firma werden wir vom Personalchef begrüßt, der mit uns zum Chef in den obersten Stock fährt. Der trohnt richtig über dem Containerhafen – unter uns die großen Krane, Schiffe und viele, viele Container wie Bauklötzchen aufgestapelt. Der Chef stellt sich als sehr engagierter und dem Teamthema gegenüber aufgeschlossener Mann heraus. Er erzählt lange über sich und sein Tun. Ich stärke Radhas Position und sage, sein Vorschlag für ein Trainingsprogramm habe gutes Weltniveau. Daraufhin wird es fest beschlossen. Der kurze Dialog mit dem Containerchef scheint etwas bewirkt zu haben. Ich habe ihn gefragt, wie sich die durchschnittliche Verweildauer der Container im Hafen entwickelt hat und er war stolz, dass er sie von fünf auf 2,2 Tage gesenkt hatte. Rada ist mehr als zufrieden mit dem Gespräch und wir schlagen den Heimweg ein. Er ist glücklich, fast gelöst und will mir noch einiges zeigen. Er fragt, was ich gerne tun will. Ich sage, ein wenig in der Sonne spazieren, weil ich noch kaum Farbe bekommen habe.
Freitag morgen: Chennai
Ich fahre mit Rada zum PDW. Dort treffe ich Julie und Saru. Der PDW findet am St. Thomas Mount, einem etwa 100 m hohen Hügel am Rande von Chennai statt, von dem man eine gute Aussicht hat, die einer Gedenktafel folgend auch schon Papst Johannes Paul genoss. Die zwei englischen Teilnehmerinnen sind schon vorher abgereist, weil sie durch den Streik der Britisch-Airways-Arbeiter nur diesen Flug bekamen. Damit sind ca. 40 Inder da sowie Anne Tucker aus New Zealand und Julie, Saru und ich als Trainer. Das Zimmer ist mit Klimaanlage aber ziemlich laut, weil dahinter das Haus er Küchenleute liegt. In Indien ist es üblich, dass ein Serviceteil, wie eine Küche in einer Institution von einer Familie übernommen wird. Die Küche und die Privaträume der Familie sind dann nicht so streng getrennt. In diesem Falle höre ich abends nach dem Abendessen, dass etwa 20.15 Uhr serviert wird, noch zwei Stunden Geklapper von Pfannen, Kesseln und Töpfen, die offensichtlich gereinigt werden. Aber es gelingt mir dies relativ stoisch hinzunehmen und im Hintergrund vorbeirauschen zu lassen.
Samstag: Chennai
Im Seminarzentrum St. Thomas Mount findet nicht nur unser Seminar statt. Es gibt auch andere Gäste. Mir fällt ein nett aussehender Afrikaner in einer afrikanischen Tracht auf. Ich unterhalte mich länger mit ihm und frage, was er hier tue. Er antwortet, er besuche Schwestern, die in Afrika für ihn arbeiteten. Er sei Bischof in Tansania. Die Schwestern präzisieren später, er sei der Erzbischof von Daressalam. Ein netter kleiner Mann, für seine Position relativ jung. Zu meiner Überraschung spricht er fließend deutsch. Dies habe er bei seinem fünfjährigen Studium gelernt, dass er in Italien absolvierte, wo er aber auch deutsch gelernt habe. Italienisch könne er im Gegensatz zum Deutschen wirklich gut. Er ist bezüglich des Deutschen bescheiden.
Eine Gefahr besteht in Indien im Generalisieren. Ich merke, dass ich immer wieder versuche zu begreifen. Über das Vorurteil, das man einem Land und seinen Leuten gegenüber hat, sieht man nur schwer die einzelnen Leute. Gerade hat man sich eine Meinung gebildet. Dann trifft man auf einen, bei dem das dann nicht zutrifft.